Leon Sido hat seine Schneiderei von der Bahnhofunterführung beim Kino Sterk an die Zürcherstrasse gezügelt.
© Alex Spichale

Ursula Burgherr, Aargauer Zeitung, 24.6.2019 Nach 16 Jahren in der Bahnhofunterführung ist Leon Sido vom Untergrund ans Tageslicht aufgetaucht. Das Porträt einer langen Reise.

Sorgfältig setzt Leon Sido seine Spezialschere an. Vor ihm liegt ein bunt bedrucktes Kleid, das eine Kundin aus ihren Ferien mitgebracht hat. «Der Stoff ist schön, aber die Verarbeitung schluderig. Ich muss die Nähte ausbessern, einen Reissverschluss einnähen, Brustabnäher einfügen und generell eine bessere Form reinbringen», meint der Schneider und vertieft sich in seine Arbeit. Das helle Atelier an der Zürcherstrasse mit den grossen Fensterfronten hat er erst im Mai bezogen. Die frische Farbe an den weissen Wänden ist noch ganz leicht zu riechen. Hinter ihm stehen brandneue Ledernäh-, Schnellnäh- und Kettelmaschinen, die er für seine tägliche Arbeit braucht. An der Wand hängen in Reih und Glied Anzüge, Hosen, Hemden und Röcke, die Sido entweder selber auf Kundenwunsch genäht hat oder ändern muss. Das neue Reich des 47-Jährigen wirkt geradezu paradiesisch im Vergleich zu dem Ort, an dem er seine Berufskarriere in der Schweiz angefangen hat.

Beengt und ohne Tageslicht

Sido ist gebürtiger Syrer und kam 2001 in den Aargau. Die politische Lage in seinem Geburtsland war damals schon extrem angespannt, die Arbeitslosigkeit betrug 45 bis 55 Prozent. Reden mag er über die Vergangenheit nicht. Aber er liess sämtliches Hab und Gut zurück. Seine vier Geschwister fanden in Holland und Deutschland ein neues Zuhause. Er bezog in Brugg eine winzige Einzimmerwohnung und wollte nur eins: «So schnell wie möglich wieder arbeiten.» Schon in seiner syrischen Heimat hatte er eine kleine Schneiderei betrieben. «Das Handwerk hat mir meine Mutter beigebracht, die für unsere ganze Dorfbevölkerung die Kleider nähte.» Die Suche nach geeigneten Räumen gestaltete sich für den jungen Ausländer als schwierig. Es fehlte an freiem Platz und ihm ganz grundsätzlich an Geld. Sido bezeichnet sich als sparsam. «Ich leiste mir nur das, was ich auch zahlen kann.» Als er erfuhr, dass in Baden in der vorderen Bahnhofunterführung beim Kino Sterk ein winziger Raum leer steht (früher war dort ein Kiosk), schlug er zu. Die Miete war spottbillig. Auf gerade mal 20 Quadratmeter richtete er sein Schneideratelier Sido ein. Die Nähmaschine erstand er Secondhand. Es war ein stabiles Modell aus der ehemaligen DDR, Baujahr 1970. Der im Gespräch eher ernst und zurückhaltend wirkende Mann muss lachen, wenn er daran denkt. Über 16 Jahre verbrachte er im Underground. Kürzte im Neonlicht Hosen, Ärmel und Säume, nähte gar ganze Anzüge, während vor seinem Geschäft Passanten hin und her huschten, um ihre Züge zu erreichen. Doch immer wieder warf der eine oder andere doch einen Blick durch das kleine Schaufenster und wunderte sich, wie jemand auf so beengtem Platz ohne jegliches Tageslicht überhaupt arbeiten kann. Leon Sido bezeichnet sich als zäh und fleissig. Die Kundschaft nahm langsam, aber stetig zu. Und er legte jeden Rappen, den er verdiente, auf die Seite.

Sein Halt ist der Glaube

Über dem neuen Atelier prangt das Schild «Leon Sido Schneiderei» mit einem Schweizerkreuz. Für den Alleinunternehmer ist es das Symbol für Qualität, Vertrauen und Zuverlässigkeit. Sein neues Reich ist mit 90 Quadratmetern fast fünfmal so gross wie das alte. Fühlt er sich mittlerweile in der Schweiz zu Hause? «Ja, zu 80 Prozent», meint der zweifache Vater mit leiser Stimme. Frau Franziska hat er in einer christlichen Freikirche in Brugg kennen gelernt. Tochter Ronja ist 11 und Sohn Livio 13. Die vierköpfige Familie wohnt in Fislisbach. Sido bezeichnet sich als gläubigen Menschen. Im Glauben zu Gott habe er in seinem nicht immer einfachen Leben stets Halt gefunden.

«Ich bin ein glücklicher Mann»

Um einen ganzen Anzug herzustellen, benötigt Sido 40 bis 50 Stunden. Diese Zeit hat er heute nicht mehr mit der zunehmend grösser werdenden Stammkundschaft. Aber Hemden, Kleider und Hosen fertigt er immer noch nach Mass an. Trotz der vielen Billigkleiderketten hat der Schneider ständig Arbeit. «Es gibt immer noch viele Leute, die sich Qualität wünschen und nicht ab Stange kaufen wollen», erzählt er.

In der Freizeit geht Sido mit der Familie gerne in die Berge. Obwohl er viel an seinen Nähmaschinen sitzt, bezeichnet er sich als Bewegungsmenschen. Den Weg von Fislisbach in sein Atelier an der Zürcherstrasse legt er meist zu Fuss zurück. «Ich bin ein glücklicher Mann mit einem perfekten Leben», sagt Leon Sido heute über sich. Reich wird er mit seiner Schneiderei wohl nie. Aber das ist ihm egal. «Zufriedenheit ist für mich der grösste Reichtum. Und ich bin sehr zufrieden. Ich habe mein schönes neues Atelier, eine tolle Kundschaft und vor allem eine gesunde Familie.» Seine dunklen Augen leuchten und er fügt hinzu: «Gott sei Dank!»